Fahrradfahren in Stockholm

Wer einmal in Kopenhagen war, vielleicht dort länger gelebt hat, wird von Stockholm aus Fahrradfahrerperspektive enttäuscht sein. Ich war es zumindest, hatte ich doch von einer Umwelthauptstadt (2010) mit seinen gesundheits- und umweltbewussten Stockholmern ein Fahrradparadis erwartet. Es gibt zwar viele Fahrradwege, aber so konsequent umgesetzt mit hoher Qualität wie in Kopenhagen ist das Radwegenetz nicht: die Wege sind viel schmaler (1,5m Standard versus 2,2m in Kopenhagen) , die Markierungen schlechter, Kreuzungen sind nicht immer gut gelöst aus Fahrradfahrerperspektive, Ampelschaltungen sind meist auf das Auto angepasst. Und auch im Winter - und der Stockholmer Winter ist lang und eisig - ist Fahrradfahren oft nicht einfach, auch wenn Fahrradwege bevorzugt geräumt werden. So sammelt sich an Übergängen (von Fahrradweg auf Straße beispielsweise), Kreuzungen und neben geparkten Autos oftmals Schneehaufen, Schneematsch und irgendwann Eis. Trotz Spikes an den Rädern kommt man an diesen Stellen ganz schön ins straucheln. Was meiner Meinung nach auch grundsätzlich anders ist in Stockholm als in Kopenhagen ist das Verhalten der Fahrradfahrer. Hier gibt es einen großen Anteil von “Kampfradlern” - gerne auf einem sportlichen Rad, aber immerhin mit Leuchtweste und Helm bekleidet - die über Rot über die Kreuzungen hechten. Rot hat hier allgemein nur empfehlenden Charakter (für Fußgänger und Fahrradfahrer; Autofahrer halten natürlich gesetzteskonform), d.h. auch gemütlich radelnde Mädels auf Hollandrad fahren entspannt mit dem Handy in der Hand über rot wenn die Luft rein erscheint. Erst fand ich dieses Verhalten ganz erfrischend - als Deutscher hat man gelernt sich an die Regeln zu halten und auch den Kindern ein gutes Vorbild zu sein, da war das irgendwie eine Befreigung, die rote Ampel ignorieren zu dürfen wenn kein Auto kam - aber mittlerweile nervt es mich, wenn mal wieder Fußgänger sorglos auf den Fahrradweg springt weil sie trotz rot nicht nach links und rechts gucken. Erstaunlich ist, dass in den vergangenen fünf Jahren “nur” (natürlich ist jeder Tote einer zu viel!) 12 Fahrradfahrer umgekommen sind, davon war bei 7 ein Auto involviert. Vergleich: Berlin von 2013-2017: 60 Tote, Kopenhagen in vier Jahren: 7 Tote). Jährlich werden zudem 50 Fahrradfahrer schwer verletzt. Stockholm hat im europäischen Vergleich übrigens die geringste Verkehrstotenzahl, 0,7 pro 100.000 Einwohner (Zeitraum: 2012-2015).

Trotz einiger Schwächen in der Radinfrastruktur ist Stockholm ambitioniert eine bessere Fahrradstadt zu werden. Die Fahrradstrategie sieht z.B. vor, dass 15% aller Reisen bis 2030 in der Hauptverkehrszeit mit dem Rad unternommen werden sollen. Ab 2018 stehen in der Legislaturperiode 1,5 Milliarde Kronen (ca. 150 Millionen Euro) zur Verfügung, die in die Verbesserung der Rad-, Fußgänger und Businfrastruktur in der Stadt investiert werden sollen (pro Einwohner ca. 158 Euro über die Legislaturperiode, entsprechend also 40 Euro pro Jahr). Berlin hat 2018/2019 ca. 100 Mio. Euro für den Ausbau des Radverkehrs zur Verfügung, wobei 66 Mio. Euro einmalig aus einem Sondervemögenstopf kommen. Ohne dieses kommt Berlin auf knapp 5 Euro/ Einwohner jährlich. Kopenhagen hat seit 2004 jährlich durchschnittlich 295 DKK (ca. 40 Euro) pro Einwohner für die Radinfrastruktur ausgegeben (staatliche und private Ausgaben). Zwar sind Zahlen schwer vergleichbar, da die Abgrenzung des Budgets unterschiedlich ist (in Stockholm beispielsweise sind ja auch Verbesserungsmaßnahmen für Fußgänger- und Busverkehr eingeschlossen), aber dennoch muss man davon ausgehen, dass Stockholm deutlich agressiver investiert als Berlin. Kopenhagen ist beiden Städten sowieso seit Jahren vorraus. Wie sieht das Radwegenetz im Vergleich aus? Stockholm hat ca. 890 km Radwege, Berlin 1000km und Kopenhagen 400km. Mit 891km² ist Berlin jedoch 10 mal so groß wie Kopenhagen (88km²) und fast fünf mal so groß wie Stockholm (188km²) . Die beiden skandinavischen Städte haben also pro Fläche ungefähr gleich viele Fahrradwege, Berlin hat nur einen Bruchteil davon. Neben dem also bereits jetzt vergleichsweise gutem Fahrradwegenetz in Stockholm gibt es weitere Annehmlichkeiten, z.B. öffentliche Fahrradpumpen. Außerdem kann man das Fahrrad immerhin außerhalb der Hauptverkehrszeit kostenlos im Pendeltåg mitnehmen, wodurch kombinierte Nutzung von Fahrrad und öffentlichen Nahverkehr möglich wird. Das Fahrradleihsystem City Bike wird leider zu 2019 eingestellt, weil gegen die Ausschreibung der Stadt nach einem Betreiber der Mietfahrräder geklagt wurde und der alte Betreiber daher bis auf weiteres die Verleistationen demontieren muss. Das ist sehr schade, denn das war nicht nur bei Touristen beliebt, sondern auch Einheimische haben es rege genutzt, z.B. auch ich, wenn mal wieder mein Fahrrad platt war. Stattdessen wird Stockholm nun von E-Roller-Anbietern eingenommen - eine teure Alternative für den Nutzer. In interessantes Werkzeug zur Verbesserung der Bedingungen für Fahrradfahrer ist die App “Tyck Till” der Stadt Stockholm. Hier können Bürger der Stadt Verbesserungsvorschläge und Ideen zum Verkehr und Stadtmilieu schicken - eine sehr niederschwellige Möglichkeit, mit der Kommune in Kontakt zu kommen.

Fazit: Es macht Spaß in Stockholm Fahrrad zu fahren, und es ist selbst im Winter gut möglich. Jedoch ist das Fahrerlebnis nicht zu vergleichen mit dem in Kopenhagen (oder holländischen Städten, allerdings bin ich dort nie Fahrrad gefahren). Die Maßnahmen, die Stockholm ergreifen will, um in die Liga von Städten wie Kopenhagen oder Amsterdam aufzusteigen, sind meiner Meinung nach jedoch zu vorsichtig als dass hier ein signifikanter Unterschied zum Status quo erreicht wird.

Julia Schütz